KOLUMNE:
Jugend von heute
Ich blicke aus dem Fenster des fahrenden Zuges. Normalerweise achte ich nicht auf die Landschaft neben den Zuggleisen. Heute ist dies jedoch anders, denn sie sind nicht zu übersehen. Sie hängen überall: an Laternenpfosten, auf Werbeflächen in den Bahnhöfen und an Hauswänden – die Wahlplakate. Stumm aber fordernd, nebeneinander und trotzdem gegeneinander, so verschieden und doch so gleich.
Am 22. Oktober ist es in der Schweiz wieder soweit, das Schicksal des Schweizer Parlaments wird an der Urne besiegelt. Für die Schweizer Politiker/innen heisst dies: Endspurt. Zum letzten Mal wird nochmals alles gegeben. Es werden Anlässe besucht, Flyer verteilt, Missstände der Schweiz bis zum Gehtnichtmehr diskutiert und all das, um die Schweizer Wählerschaft von sich zu überzeugen. Zu diesem politischen Prozedere gehören auch die allbekannten Wahlplakate, die jedem Politikdesinteressierten klar machen, es wird wieder ernst in Bundesbern. Für mich ist dies der positive Aspekt der Wahlplakate, denn wir können nicht negieren und verhehlen, dass die Politik ein wichtiger Bestandteil im Leben von jedem Menschen ist und sein sollte. Deshalb ist der Gang zur Wahlurne für jeden Schweizer und jede Schweizerin auch so wichtig. Egal, wo man wohnt, man kann den Wahlplakaten, der Politik nicht den Rücken kehren. Aus diesem Grund finde ich den Leitgedanken der Wahlplakate gut, was ich weniger gut finde, ist die Ausführung der einzelnen Politiker. (Ich nehme hier keinen Bezug auf eine bestimmte Partei oder einen bestimmten Politiker/ eine bestimmte Politikerin.)
Die Wahlplakate bestehen aus hellen Farben; manchmal einem saloppen Slogan; dem Parteinamen; der Listennummer und dem Aufruf: «Wählt xy in den National-/Ständerat.» Eines der wichtigsten Organisationsprinzipien der Schweizer Politik ist das Milizsystem. Die meisten politischen Tätigkeiten werden nebenberuflich ausgeübt, damit sich unser gesamtes Politiksystem mehr auf die Bürger/innen der Schweiz ausrichtet. Wir profitieren davon, dass Schweizer Politiker/innen Berufserfahrung aus anderen Bereichen mitbringen und so eine kleinere Diskrepanz zwischen Politik und der Bevölkerung herrscht. Auf den meisten Wahlplakaten ist dieser Aspekt leider jedoch fast nicht zu sehen. Zwar gibt es Ausnahmen, aber auf den meisten Wahlplakaten ist immer das Gleiche zu sehen: Gestellt lächeln alle Kandidaten in ihrem besten Hemd in die Kamera, manchmal variiert dabei noch der Hintergrund, aber keine Individualität. Mir ist klar, dass man keinen Platz hat, seine ganze Lebensgeschichte abzudrucken und das verlange ich auch gar nicht. Aber es gibt einen Grund, weshalb wir Menschen in unser Parlament wählen und nicht bloss die Parteien. Wir legen die politische Zukunft unseres Landes in die Hände von (meistens) Fremden. Sie erhalten das grosse Privileg, sich zusammen für eine bessere Schweiz einzustehen. Die Bedeutung des Wortes «bessere Schweiz» ist subjektiv zu bewerten und hat bei jedem eine andere Bedeutung. Aus diesem Grund finde ich es wichtig zu wissen, wer denn da zur Wahl steht. Welchen Ansporn hat die Person in der Politik tätig zu sein? Welche Erfahrungen bringt Sie mit? Welche Anliegen liegen Ihr am Herzen? Klar, es ist wichtig, dass Politiker/innen auch Seriosität, Ehrgeiz und Bissfestigkeit mitbringen, denn mit «Gspürsch-mi-fühlsch-mi» werden sich die politischen Probleme der Schweiz nicht in Luft auslösen. Dennoch, ein wenig Authentizität würde der Schweizer Politik nicht schaden. In dem ganzen Wahlkampfgetümmel wird oftmals vergessen, dass hinter Politiker/innen und Parteien auch nur Menschen stehen, die ihrer Meinung nach, das Beste für die Schweiz wollen. Wenn mehr Menschlichkeit und Individualität auf Wahlplakaten und im Wahlkampf zu sehen wäre, vielleicht wäre auch mehr Verständnis für andere Meinungen vorhanden. Denn es geht nicht immer nur um das «was», sondern manchmal auch um das «warum» und das «wer».
Herzlichst
Lilly Rüdel